Wenn Geld zum Problem wird – Caritas St.Gallen-Appenzell öffnet Jugendlichen die Augen
Freitag, 31. Oktober 2025Oft sieht man es den Menschen nicht an, wenn sie arm sind. Armut wird versteckt, niemand will sich outen. Doch wen kann es treffen – und was bedeutet es, nicht genug Geld zum Leben zu haben? In Workshops bringt das Team der Caritas St.Gallen-Appenzell das Thema an Schulen auf den Tisch. Vorurteile werden abgebaut, Lösungsansätze diskutiert. Einer der Workshops fand dieser Tage an der Meitleflade statt. Durchgeführt wurde er von Gregor Scherzinger, Co-Geschäftsleiter, und Akin Levent Kayrahan, Kommunikationsverantwortlicher der Caritas St.Gallen-Appenzell.
Gregor Scherzinger, Co-Geschäftsführer der Caritas, motiviert zum Nachdenken über Armut. Bild: Roger Fuchs
Die Zahlen lassen niemanden kalt: 43’000 Menschen leben laut Caritas im Kanton St.Gallen in Armut, rund 86’000 Menschen sind armutsgefährdet und etwa 100’000 Menschen könnten unerwartete Ausgaben in der Höhe von 2’500 Franken nicht stemmen. Setzt man dies ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung im Kanton – Ende 2024 waren dies gemäss Fachstelle für Statistik 540’000 Personen -, so ist fast jede fünfte Person knapp bei Kasse.
Im Rahmen eines Inputreferats diskutieren Schülerinnen einer dritten Realklasse der Meitleflade, warum Armut in der Schweiz oft nicht sichtbar ist und welche Herausforderungen mit der Armut verbunden sind. Arm zu sein bedeute nicht nur ein leeres Portemonnaie zu haben, sondern auch, Scham zu empfinden. Co-Geschäftsleiter Gregor Scherzinger von der Caritas: «Der einzige wirklich sichtbare Indikator, ob jemand arm ist oder nicht, sind häufig die Zähne. Armutsbetroffene können sich solche Ausgaben nicht leisten.»
Aus Scham nicht zum Sozialamt
Die Schülerinnen hören zusammen mit der Religionsverantwortlichen Sandra Hollenstein den Ausführungen aufmerksam zu. Und sie werden angeregt, eigene Gedanken zu äussern. Beispielsweise bei der Frage nach dem Mindestlohn oder jener nach sogenannten Working-Poor – also Menschen, die trotz Arbeit zu wenig Geld haben. In der Schweiz gelten laut Bundesamt für Statistik etwa 340’000 Erwerbstätige als Working Poor. Darüber hinaus thematisiert der Workshop, dass viele Betroffene den Gang zum Sozialamt oder zur Caritas aus Scham oder Unsicherheit hinauszögern. Menschen täten sich schwer, ihre finanzielle Unabhängigkeit aufzugeben.
Doch wen kann Armut treffen und wen nicht? Die Antwort fällt kurz und knapp aus: «Jede und jeden». Deshalb gelte es, aus Solidarität für solche Menschen da zu sein, betont das Caritas-Team. Zusätzlich erfahren die Schülerinnen der Meitleflade, dass Caritas sich nicht nur für direkte Hilfe einsetzt, sondern ihr Wissen und ihre Erfahrung auch in sozialpolitische Prozesse einbringt, damit langfristige Lösungen entstehen.
Armut erleben – hautnah
Vertieft wird das Gehörte mit einer interaktiven Tour durch die Stadt St.Gallen. Aufgeteilt in Gruppen brechen die Mädchen auf. Über ein App werden sie mit den Erfahrungen und Herausforderungen einer Working-Poor-Familie konfrontiert. Und sie erhalten laufend neue Aufträge und Diskussionsstoff. So gilt es unterwegs beispielsweise über persönliche Einsparmöglichkeiten zu sprechen. Oder darüber, inwieweit man selbst bereit wäre, etwas zum Haushaltsbudget beizutragen. Auch zur Frage, wie es heute so weit kommen kann, dass man trotz Erwerbstätigkeit arm sein kann, tauschen sich die Schülerinnen aus.
Ziel ist der Caritas-Markt an der Langgasse in St.Gallen. Menschen gehen ein und aus – einige gut gekleidet, aber dennoch offenbar arm. Ja, dies passe zum Gehörten, flüstern zwei Schülerinnen. Armut sei offenbar unsichtbar. Schliesslich dürfen sie sich selbst im Caritas-Markt umschauen. Sie vergleichen Produktepreise mit jenen in «normalen» Einkaufszentren. Eins zu eins erleben sie, wie Caritas mit solchen Märkten Menschen hilft und günstige Einkäufe ermöglicht. Doch an diesem Punkt zu stehen und hier einkaufen zu müssen, wünscht sich niemand. Schon im Schulzimmer hat Gregor Scherzinger zum Perspektivenwechsel motiviert nachdenken lassen, was es heisst, arm zu sein: Täglicher Verzicht, ein ständiger Überlebenskampf, Mobbing und Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben, gefangen im Labyrinth der Ämter, machtlos, die Hände gebunden.
Und so nehmen die Schülerinnen am Schluss mehr mit als nur Zahlen und Fakten. Sie haben erfahren, dass Armut viele Gesichter hat. Sie kann alle treffen. Doch nur wer versteht, wie es ist, mit wenig auskommen zu müssen, kann dazu beitragen, dass niemand am Rand der Gesellschaft stehen bleibt.
Text und Bilder: Roger Fuchs