Überraschende Hilfe: Ein Wandergeselle packt im Stiftsbezirk St.Gallen mit an
Mittwoch, 26. Juni 2024Seit drei Monaten ist der zwanzigjährige Mica Thonak auf der Walz. Gestartet in seiner Heimat Norddeutschland, ist er vor wenigen Wochen in St.Gallen angekommen. Nun hat er bei jenem Holzbauunternehmen angeklopft, das derzeit im Stiftsbezirk St.Gallen mit Umbauten beschäftigt ist. Eine Win-Win-Situation: Der Handwerksbetrieb ist froh um jegliche Unterstützung und Mica Thonak glücklich, hier mitarbeiten zu dürfen. Eines jedoch vermisst der Wandergeselle.
Der Wandergeselle Mica Thonak aus Norddeutschland bei laufenden Arbeiten in einem Dachgeschoss des Stiftsbezirks St.Gallen.
Manch Blicke sind Mica Thonak gewiss – in seiner Wandergesellen-Kluft fällt er im Stiftsbezirk St.Gallen sofort auf. Es ist mittlerweile die zweite Woche, die er sich hier aufhält und im Dachgeschoss des Schulflügels bei den laufenden Umbauarbeiten mitanpackt. Ob Kreissäge, Schnellnagler oder Akkuschrauber, Mica Thonak weiss mit Maschinen und Werkzeugen umzugehen, er ist ausgebildeter Zimmermann.
Wie es die nach wie vor verbreitete Tradition im Baugewerbe will, hat er sich entschieden, nach dem erfolgreichen Lehrabschluss auf die Walz zu gehen. «Dabei muss ich mindestens drei Jahre und einen Tag unterwegs sein» erzählt der 20-Jährige. Drei Monate hat er bisweilen geschafft. Von seiner Heimat Flensburg in Norddeutschland führte ihn der Weg mit Autostopp und nach Zwischenstationen wie Hamburg, Bremen, Köln sowie dem Allgäu in die Schweiz. Seine Präsenz im Stiftsbezirk hat nahezu symbolischen Charakter: Berufliches Traditionsbewusstsein trifft auf kulturelles Erbe.
Auf der Strasse angesprochen worden
Wie der Wandergeselle erzählt, wohnt er seit seiner Ankunft in der Gallusstadt Mitte April in einer Unterkunft, die er über die Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen Deutschlands fand. Ziel dieser Vereinigung ist es, die Gesellen bei ihren Reisen zu unterstützen und zu fördern. Während der ersten Zeit in der Ostschweiz fand Mica Thonak Arbeit im Bereich des Scheunenbaus. «Als ich dann eines Tages durch die Stadt St.Gallen lief, hat mich jemand angesprochen, der den Chef des Unternehmens kennt, für das ich nun arbeiten darf.» Er sei dann einfach zu dieser Holzbaufirma hingegangen und habe sofort anfangen können.
«Es ist für mich etwas sehr Spezielles und eine neue Erfahrung, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der auf der Walz ist», sagt Zimmermann Fabian Rechsteiner, der in der ersten Woche Mica Thonak in die Arbeiten einführte. Auch wenn der Wandergeselle durchaus noch das eine oder andere dazulernen müsse und die qualitativen Ansprüche in der Schweiz wohl etwas höher seien als in Deutschland, so gibt sich Rechsteiner sehr zufrieden mit dem Mitarbeiter auf Zeit. «Angesichts der vielen Arbeit sind wir auch froh um jede Hilfe.»
Bratwurst statt Mahlzeiten von der Mutter
Mica Thonak kann sich gut vorstellen, vorerst hier zu bleiben und auch über die Sommerwochen hinaus der Arbeit im Stiftsbezirk St.Gallen nachzugehen. Fachkundig schneidet er während seinen Ausführungen Fermacell-Platten in die passende Form, um sie sodann an der zuvor ausgemessenen Stelle der Wand anzubringen. Auf die Frage, ob er allenfalls auch ein wenig Heimweh habe, meint er diplomatisch «es geht». Und konkret: «Am meisten vermisse ich das Essen meiner Mutter.» Die St.Galler Bratwurst habe er aber auf jeden Fall schon ausprobiert. «Diese schmeckt auch gut», so Thonak schmunzelnd unter dem zur traditionellen Kluft gehörenden schwarzen Hut.
Wie es für Mica Thonak nach der Zeit im Stiftsbezirk weitergehen wird und wohin es ihn zieht, kann er nicht sagen. Für die Winterzeit habe er bislang keine Pläne und es sei alles offen. Fakt ist einzig: Zwei Jahre und neun Monate wird er noch unterwegs sein müssen, sich auf Abenteuer und Lebenserfahrung einlassen. Und natürlich will er gute Eindrücke hinterlassen, damit auch die nächsten Gesellen auf der Walz gleichwohl willkommen sind.
Text und Bilder: Roger Fuchs